Ein Geist, der wertet und urteilt

Ist dir schon aufgefallen, dass viele von uns Ereignisse, Begegnungen, Gedanken und Gefühle bewerten? Hast du dich schon mal gefragt, warum wir das tun und was das mit uns macht?  

 

Primär dient dieses Bewertungsmuster unserem Schutz. Seit Urzeiten sind wir Menschen mit einem Überlebenskompass ausgestattet, um in einer Welt zu überleben, wo hinter jeder Ecke ein «Säbelzahntiger» hervorkommen kann. Natürlich findet man diesen Jäger heute nur noch in Fabeln und Geschichten, doch der Überlebensmodus und das Bedürfnis, sicher zu sein, sind seit Urzeiten von Generation zu Generation weiter vererbt worden.

 

Werten und be-werten sind eigentliche Überlebensstrategien und geben uns Sicherheit und Orientierung. Warum hören wir aber immer wieder den Satz: «Werte nicht!» Auch in meinen Therapiesitzungen ermutige ich meine Klient*innen gerne, nicht zu werten und zu erforschen, was sich dadurch in ihrem Leben ändert. Das sind zwei Aussagen, die sich eigentlich widersprechen. Ich begleite meine Klient*innen hin zu mehr Sicherheit und gleichzeitig ermutige ich sie, nicht zu urteilen. Wie soll man das verstehen? Das Zauberwort dazu ist «Bewusstsein». Es geht im ersten Schritt darum, achtsam uns selbst zu beobachten, was unsere Gedanken uns ununterbrochen zuflüstern und was diese Gedanken für eine Wirkung auf unser Gefühlsleben haben.

 

Uns bewusstwerden, was wir genau tun – bewerten, abwerten oder sogar moralisch verurteilen – gibt uns die Möglichkeit, auf dieses Kopfkino Einfluss zu nehmen.Vielleicht wird uns dann bewusst, dass du den falsch fahrenden Autofahrer beschimpfst, um deinen eigenen inneren Stress abzubauen. Oder dass du wütend bist und deine Eltern wegen ihrem Verhalten auf den Mond schicken möchtest, um den Schmerz, der während deiner Kindheit entstanden ist, nicht fühlen zu müssen. Oder dass du das neue Kleid, das deine Freundin trägt, hässlich findest, nur weil du neidisch bist, dass du dir selbst kein neues Kleid kaufen kannst etc. Du siehst an diesen Beispielen, dass wir gerne verführt sind, andere zu beurteilen oder abzuwerten, um uns vermeintlich besser zu fühlen und um den wahren Schmerz - bzw. Triggerpunkt, der sich hinter den Werturteilen versteckt, nicht anschauen zu müssen. Doch diese Strategie ist nicht zielführend und lässt vor allem die Verletzungen und negativen Erfahrungen, die hinter den Werturteilen stehen, nicht heilen oder ins Positive wandeln.

 

Nicht werten, nicht urteilen ist nicht gleichbedeutend mit keine eigene Meinung haben dürfen. Das wäre fatal. Vielmehr geht es darum, dir bewusst zu werden, dass in deiner Wertung nur ein Teilaspekt des Ganzen beurteilt wird und dass das Werten dich nur von deinen wahren Gefühlen schützen möchte. So wird dir bewusst, dass das Kleid deiner Freundin nicht dein Geschmack ist, aber du erkennst, wie sehr sie sich damit wohl fühlt. Du freust dich, weil sie sich freut, und gleichzeitig nimmst du deinen inneren Schmerz wahr, dass du dir so lange keine eigenen neuen Kleider mehr leisten konntest. Oder deine Eltern haben in der Erziehung Fehler gemacht, aber du erinnerst dich auch gerne an den Ausflug in die Berge mit deinem Vater und erlaubst dir gleichzeitig, den Schmerz des kleinen Jungen zu fühlen, der du warst, der so traurig, unverstanden und verlassen war, als deine Eltern sich scheiden liessen.

 

Urteilen und werten kostet uns ein Stück unserer Ganzheit und trennt uns von unseren Mitmenschen. Wir sollten uns eine eigene Meinung bilden dürfen, doch das ist unsere individuelle persönliche Meinung, die entstanden ist durch alles, was wir erlebt und erfahren haben. Diese Meinung hat keinen Anspruch eine objektive Wahrheit zu sein. Unsere Mitmenschen sehen die Welt mit ihrer eigenen Brille, was dazu führen kann, dass sie eine andere Sicht auf die Dinge entwickeln.

 

Ist es nicht gerade diese Andersartigkeit, die das Leben so farbig und spannend macht? Ich merke immer wieder, wie sich Räume öffnen, wenn ich neugierig, offen und wertfrei den Menschen in meinem Umfeld begegne. Es entsteht sofort eine Form von Verbindung, weil sich der oder die andere gesehen, gehört und ernst genommen fühlt. Üben wir in dieser Haltung uns selbst und unseren Mitmenschen zu begegnen, ist das der Boden, um ein gesundes, konstruktives, friedliches Miteinander zu entwickeln. Hier dürfen Verletzungen heilen, Potenziale können sich entwickeln und wahre Begegnungen werden möglich.